WILPF Schweiz
                              Women's International League for Peace and Freedom

Wie ein sinnloser und rechtswidriger Angriff auf Nordostsyrien ein Schlag gegen die Rechte der Frauen ist

Seit 2012 haben die Kurden und andere Minderheitsvölker in Nord- und Nordostsyrien den teilautonomen Status innerhalb des vom Krieg zerrütteten Landes erreicht. Für einen Grossteil dieser Zeit und besonders nach dem Zusammenbruch von Daesh konnten die Menschen in dieser Region wieder einige der Freiheiten geniessen, die ihnen viele Jahre lang genommen worden waren. Bis vor dem türkischen Einfall war Rojava Sitz einer Reihe von zivilgesellschaftlichen Bewegungen mit starken Frauenrechtsgruppen, die mit relativer Freiheit und Sicherheit arbeiteten.

Laut Shivan, einem Aktivisten in Hasakeh, und dem von WILPF erstellten Lagebericht hatten es Gruppen der Zivilgesellschaft in der Region geschafft, die lokalen Regierungen zu überzeugen, mehrere Gesetzesartikel und Verordnungen zur Verbesserung und zum Schutz der Rechte von Frauen abzuändern. Dazu gehörten Massnahmen zur Kriminalisierung von minderjährigen Ehen und Polygamie, die Auferlegung einer 50%igen Geschlechterquote in der Regierung der Dorfgemeinschaften sowie die Errichtung eines reinen Frauendorfes, in dem Frauen, die alles verloren hatten, leben und arbeiten konnten. 

Diese Errungenschaften stehen auf dem Spiel.

Die gewaltsame türkische Offensive hat die Dorfstrukturen der Region verwüstet.

Shivan sprach mit WILPF über die katastrophale Situation von Frauen und Kindern, die aufgrund der türkischen Offensive aus diesem Gebiet vertrieben wurden.

"Alles geschah plötzlich und ohne Vorwarnung. Wir mussten unsere gesamte Arbeit an den Programmen zur Stärkung der Frauen stoppen und uns auf die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Unterkünften für die Betroffenen konzentrieren." Shivan ist bei PEL-Civil Waves aktiv, einer Organisation, die sich in Nordsyrien für eine gleichberechtigte und demokratische Gesellschaft einsetzt.

Nachdem US-Präsident Trump im September 2019 den Abzug der US-Streitkräfte angekündigt hatte – ein wesentliches Element des unruhigen Kräftegleichgewichts in der Region –, wurde das Vakuum innert weniger Tage von der Türkei besetzt. Da die Kurden nun niemanden mehr hatten, der sie schützen konnte, und eine berechtigte Angst vor ethnischen Säuberungen durch die türkischen Streitkräfte hatten, mussten sie sich an das Regime in Damaskus wenden, um Hilfe zu erhalten.

Das Eindringen der syrischen Streitkräfte in das Gebiet hat katastrophale Auswirkungen. Die Wiederein-führung der autoritären Herrschaft der syrischen Regierung wird aller Wahrscheinlichkeit nach für Aktivisten und zivilgesellschaftliche Gruppen verheerend sein. Hunderttausende Syrer wurden von der Regierung festgenommen oder sind verschwunden. Viele Aktivist*innenen in Rojava sind bereits aus Angst vor Verfolgung aus der Region geflohen.

"Jahre des Aufbaus einer echten feministischen Bewegung und der aussergewöhnlichen Arbeit für eine gleichberechtigte Gesellschaft sind vom totalen Zusammenbruch bedroht", sagte Shivan.

Seit 2011 zahlen syrische Zivilisten den Preis für die politischen Rivalitäten der Welt.  Männer in Damaskus, Washington, Moskau und Teheran haben Entscheidungen gefällt, welche die Frauen in Syrien direkt treffen, und sie sind es, die dann versuchen müssen, aus dem Ruin ein neues Lebens aufzubauen. Trotz ihrer kontinuierlichen Bemühungen, Tyrannei und Ungerechtigkeit in einer stark militarisierten Umgebung zu widerstehen, scheint es, dass bald ein weiteres Kapitel im Buch der kurdischen Geschichte geschrieben wird.

"Dies ist jetzt ein fruchtbarer Boden für die Wiedergeburt der Terrororganisation IS und die Rückkehr zur Unterdrückung von Frauen", sagte eine führende syrische Aktivistin gegenüber WILPF.

Syrische Menschenrechtsorganisationen und Gruppen der Zivilgesellschaft werden in der Türkei schikaniert.

In der Türkei leben schätzungsweise 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge, und viele syrische Organisationen und zivilgesellschaftliche Gruppen, die in Nordsyrien tätig sind, haben dort ihren Sitz. Obwohl die meisten von ihnen sich kategorisch gegen die türkische Aggression gegen Nordsyrien aussprechen, ist es gefährlich, ihre Ansichten zu äussern. Die türkische Regierung hat in den letzten Jahren mit zunehmender Regelmässigkeit syrische Aktivisten mit Überfällen auf ihre Büros und gewaltsamen Rückführungen von Flüchtlingen nach Syrien schikaniert. In diesem Artikel mussten wir Pseudonyme verwenden, da alle Aktivisten in der Türkei befürchten, dass, wenn sie sich zu Wort melden, ihre Organisationen geschlossen und ihre Mitarbeiter*innen entweder ausgewiesen oder verfolgt werden.

WILPF erklärt sich solidarisch mit syrischen Frauen und Zivilisten.

Der von der Türkei angeführte militärische Überfall ist völkerrechtswidrig – der UN-Sicherheitsrat muss handeln. WILPF stellt sich auf die Seite der syrischen Frauen und Zivilisten, welche die schrecklichen humanitären Folgen der Invasion ertragen müssen. Wir sind nach wie vor zutiefst beunruhigt über die Massenvertreibungen, die mehr als Hunderttausende ohne Wohnung, Schutz oder Zugang zu grundlegenden Infrastrukturen zurücklassen. Wir bekunden auch unsere uneingeschränkte Unterstützung für die syrischen Aktivist*innen der Zivilgesellschaft, insbesondere für die syrischen und kurdischen Frauen, die sich seit vielen Jahren unermüdlich für Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit im ganzen Land einsetzen.

Oktober 2019 / Übersetzung und Redaktion: H. Nyberg, WILPF Schweiz

 

 


 

Stellungnahme von WILPF Schweiz zum Angriff der Türkei auf Nordsyrien
 (PDF)